𝑃𝑜𝑙𝑒𝑚𝑖𝑘 𝑎𝑚 𝑆𝑜𝑛𝑛𝑡𝑎𝑔
Unsere Gesellschaft perfektioniert eine ökonomische Praxis, die keine Bilanzen kennt: das Schönreden. Ein psychologisches Produkt, das überall im Umlauf ist, aber nirgendwo Wert schafft. Die inflationäre Währung des 21. Jahrhunderts ist nicht Geld, sondern Beschwichtigung.
Schönreden ist die eigentliche Leitkultur moderner Organisationen. Unternehmen „transformieren“ nicht, sie verschleppen Probleme mit euphorischen Vokabeln. Führungskräfte „empowern“ nicht, sie dämpfen Widerstände mit sprachlicher Zuckerglasur. Mitarbeiter sind nicht unmotiviert, sie „durchlaufen eine Phase der Neuorientierung“. Alles wird geglättet, relativiert, verpackt - in eine Sprache, die keinen Widerstand mehr zulässt.
Schönreden ist nichts als ein Abwehrmechanismus.
Es schützt vor der Konfrontation mit Realität, Schmerz und Verlust.
Statt sich den Unzulänglichkeiten zu stellen, werden sie ästhetisiert.
Aus Scheitern wird „Lernchance“, aus Entlassungen „Neuausrichtung“. Die Folge: kollektive Realitätsvermeidung.
Ökonomisch betrachtet erzeugt diese Praxis eine gefährliche Verzerrung: Unternehmen verschwenden Ressourcen, weil sie Probleme nicht benennen. Sie verschieben Krisen, anstatt sie zu lösen.
Sie produzieren Präsentationen, die wie Bilanzen aussehen, aber nur narrative Masken sind.
Das Schönreden verwandelt Organisationen in Blasen aus Storytelling, die so lange wachsen, bis sie implodieren.
Die Kunst des Schönredens ist keine naive Rhetorik, sondern ein Marktmechanismus. Wer die schönste Erzählung verkauft, erhält Aufmerksamkeit, Fördergelder, Investitionen. Aber was nicht ausgesprochen werden darf, kann auch nicht bearbeitet werden.
So entsteht ein ökonomisches Paradox: Der kurzfristige Nutzen des Schönredens - einschläfernde Beruhigung, vermeintliche Anerkennung, Scheinsicherheit - zerstört langfristig die Fähigkeit zur Korrektur.
Schönreden ist nichts anderes als die institutionalisierte Lüge.
Sie ist nicht harmlos, sondern systemisch verheerend. Denn dort, wo jede Realität weichgespült wird, wird das Scheitern unsichtbar - bis es übermächtig zurückkehrt.
Vielleicht wäre die radikalste gesellschaftliche Innovation unserer Zeit, das Schönreden abzuschaffen.
Probleme wieder Probleme nennen.
Schmerzen als Schmerzen bezeichnen.
Risiken nicht als „Chancen“ umetikettieren, sondern aushalten.
Psychologisch würde das bedeuten: Erwachsenwerden.
Ökonomisch: Ressourcen sparen.
Gesellschaftlich: endlich wieder ernsthaft sprechen.
Alles andere ist Sprachkosmetik im Angesicht des Verfalls.